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 "Das Mädchen ist schuld - ist doch klar!"
IAMANEH Suisse

"Das Mädchen ist schuld - ist doch klar!"

Rund 80 Jugendliche drängen sich im Klassenzimmer, die meisten von ihnen sind Buben im Alter von 12 bis 15 Jahren. Die 10–15 Mädchen, die anwesend sind, sind die Privilegierten ihres Geschlechts: In Burkina Faso beenden fast 95 Prozent aller Mädchen nach der Grundschule ihre Ausbildung. Wir dürfen heute einer causerie, einer Art Plauderstunde in der Sekundarschule in Koussouka beiwohnen. Thematisiert werden sollen Sexualität, ungeschützter Geschlechtsverkehr, Risiko einer Ansteckung mit HIV oder anderen sexuell übertragbaren Krankheiten und ungewollte Schwangerschaften. Eine breite Themenpalette! Wohlwissend, dass Themen rund um die Sexualität in Burkina Faso ein Tabu sind, rechne ich mit peinlichem Schweigen, ich soll jedoch eines Besseren belehrt werden.

Die Jugendlichen sind interessiert, kein peinliches Schweigen, auch keine obszönen Gesten, ab und zu verstohlene Blicke. Alles in allem aber eine sehr entspannte, heitere Atmosphäre, es wird viel geplaudert, viel gelacht. So hätte ich mir Schule in Burkina nicht vorgestellt und Aufklärungsunterricht schon gar nicht.

Beate Kiefer, Mitarbeiterin von IAMANEH berichtet von ihrem Projektbesuch bei AMMIE, der Partnerorganisation von IAMANEH in Burkino Faso. Seit 2012 informiert und sensiblisiert AMMIE Jugendliche an Schulen zu Themen sexueller und reproduktiver Gesundheit. Der gemeinsame Schulbesuch erweist sich als höchst interessant.

Schwanger - wer ist schuld?
Die Schülerinnen und Schüler müssen noch besser eingebunden werden, sollten noch mehr untereinander diskutieren und reflektieren. Kadiatou Keita, Regionalkoordinatorin von IAMANEH Schweiz, und ich versuchen deshalb, durch Fragen mehr zu erfahren, sowie den Austausch untereinander zu fördern. Wir erfahren, dass dies die zweite Plauderstunde in dieser Klasse ist, dass es in der ersten um sexuell übertragbare Krankheiten, ihre Ursachen, wie sie sich vermeiden lassen ging, aber auch um ungewollte Schwangerschaften und mögliche Konsequenzen für das Mädchen. Unsere Frage «wer ist dafür verantwortlich, wenn ein Mädchen schwanger wird – das Mädchen oder der Junge?», löst eine rege Diskussion unter den Schülern aus. «Das Mädchen natürlich, ist doch klar, sie hätte enthaltsam sein müssen», meint einer, «nein, der Junge, er hat doch kein Kondom benutzt», meint ein anderer. Nach langem Hin-und-Her-Diskutieren einigen sie sich darauf, dass nicht einer von beiden für die Schwangerschaft verantwortlich ist, sondern beide, vorausgesetzt, dass beide den Geschlechtsverkehr wollten. Wir fragen weiter, wie man denn ihrer Meinung nach ungewollte Schwangerschaften vermeiden könne. «Treu sein» (ups, da hat einer nichtichtig aufgepasst!), «Enthaltsamkeit», «Kondom benutzen» bekommen wir zur Antwort.

Wie kommen Jugendliche in Koussouka zu Kondomen, so unsere nächste Frage. Wieder diskutieren die Jugendlichen untereinander, einigen sich darauf, dass es Kondome in Geschäften für 75 FCFA (rund 15 Rappen) gibt und sie damit auch für Jugendliche erschwinglich sind. Wir erfahren auch, dass Kondome in Apotheken zwar teurer, aber auch von besserer Qualität sind («gut gelagert», «nicht abgelaufen», «dicker»).

Ob es nicht peinlich sei, in einem Geschäft nach Kondomen zu fragen? Wie fragt man danach, was ist das Passwort? Diese Fragen lösen erst einmal Gelächter aus, nach einer Diskussion in mooré bekommen wir dann aber interessante Antworten: «über Zeichensprache», meint einer, «wir nennen es biscuit à deux», «Quatsch, das ist doch ein biscuit de nuit», «in unserem Dorf sagt man bonbon à 75 Francs», ...es scheint hier verschiedene lokale Anpassungen zu geben.

Gerangel um 150 Kondome
Am Ende der kurzweiligen causerie dürfen sich die Schülerinnen und Schüler noch Kondome nehmen. Mein erster Gedanke war «kein Mensch wird sich trauen, sich unter den Augen seiner Mitschüler und noch dazu in Anwesenheit einer Toubab, einer Weissen, zu bedienen». Aber wieder sollte ich eines Besseren belehrt werden: Es gab ein regelrechtes Gerangel, und in Windeseile war die Tasche mit den 150 Kondomen leer!

Die wenigen anwesenden Mädchen haben sich aktiv an den Diskussionen beteiligt und sich Kondome genommen. Bei diesen Mädchen, welche die weiterführende Schule besuchen dürfen, handelt es sich offensichtlich um Mädchen relativ offener Eltern.

Auf dem Heimweg – die Sonne steht mittlerweile im Zenit – fahren wir wieder an den Goldschürfstätten vorbei. Der Goldabbau belebt den regionalen Markt: Überall sieht man nun Frauen, aber auch junge Mädchen, die für den Wassertransport, die Verpflegung der Männer oder das Hüten der Kinder zuständig sind. Viele von ihnen sind auf Armuts- oder Gelegenheitsprostitution angewiesen, um zu überleben. Wir diskutieren während der Reise mit dem Projektteam über Anpassungen, die geplant sind: Weniger Themen, aber dafür vertiefter diskutieren, besseres Unterrichtsmaterial besorgen, mittels Ansatz von «Gleich zu Gleich» Kommunika-tionsbarrieren, Altersunterschiede und Abgrenzungsprobleme vermeiden. Aufklärung soll auch dort stattfinden, wo sich Jugendliche aus dem informellen Sektor aufhalten: auf dem Markt, der Strasse oder hier, in Goldschürfstätten, wo Aufklärung und Prävention von Geschlechtskrankheiten sowie HIV/Aids zentrale Themen wären. (Bericht von Beate Kiefer).

Weitere Informationen dazu und wie IAMANEH in der künftigen Projektarbeit Jungs und Männer mehr ansprechen möchte, können Sie im beiliegenden Flyer "Jungs ins Gespräch bringen" nachlesen. IAMANEH will hinsehen, stellt sich dazu wichtige Fragen und sucht nach Wegen, um den Realitäten der unterschiedlichsten kulturellen Kontexte zu begegnen. In verschiedenen Projekten in Westafrika und im Westbalkan rückt Gewaltprävention oder Verantwortungsübernahme mehr ins Sichtfeld: Wie gelingt es, die heranwachsenden Männer mit Werten und Vorstellungen zu konfrontieren, die einen gewaltbereiten Umgang miteinander und gegenüber Frauen verneinen und eine Auseinandersetzung mit Geschlechterrollen zulassen? Wie können die Jungs begleitet werden, damit sie für das eigene Verhalten Verantwortung übernehmen können und sich nicht unreflektiert, sondern kritisch mit den Vorgaben ihrer Vorbilder beschäftigen? (2014)

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