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„Es hat mir neuen Mut gegeben". Ein Toolkit für lösungsorientierte Erinnerungsarbeit
Treasure memories. Toolkit für lösungsorientierte Erinnerungsarbeit

„Es hat mir neuen Mut gegeben". Ein Toolkit für lösungsorientierte Erinnerungsarbeit

Memory Books (Erinnerungsbücher), ursprünglich in der Arbeit mit aidskranken Eltern afrikanischer Herkunft entwickelt, sind gleichzeitig Lebensbücher. aidsfocus.ch hat in Zusammenarbeit mit terre des hommes schweiz ein neues Toolkit erarbeitet, welches über die Kreise der Aidsbetroffenen hinaus von Bedeutung ist.

„Es hat mir neuen Mut gegeben“, sagte eine der Frauen am Schluss des Workshops, an dem sie ihr eigenes Buch geschrieben und gemalt hatte. „Ich habe nicht gedacht, dass wir uns auf eine so gute Art und Weise auf Erinnerungen, die oft sehr wehtun, einlassen können. Es ist eine sehr gute Erfahrung“, sagte eine andere Teilnehmerin lächelnd. Auf Einladung von Action Aid International hatte ich Ende 2007 in Haiti einen Workshop zu Memory Work moderiert. 25 HaitianerInnen hatten daran teilgenommen, die meisten von ihnen Frauen und HIV-positiv.

Erinnerungs- und Lebensbücher
Zur Einstimmung und zum Kennenlernen verschiedener Ansätze von Memory Work zeigte ich am Workshop in Haiti den Film von aidsfocus.ch „Kraft der Erinnerung. Memory Work mit HIV/Aids-Betroffenen in Südafrika“. Der Film löste grosse Betroffenheit aus, bei einigen auch Abwehr. „Ich möchte nicht mein Testament schreiben“, sagte eine junge Frau unter Tränen. Bereits hier zeigte sich, wie wichtig es ist, die stärkende und transformierende Kraft der Erinnerungsarbeit zu betonen. Ich schlug daher vor, künftig von „Erinnerungs- und Lebensarbeit“ zu sprechen, und malte über Nacht den Titel des Demonstrationsexemplars neu: „Memory and Life Book“. Die TeilnehmerInnen nannten ihr Buch „L’histoire de ma vie“, “Ma vie positive“ oder schlicht „Mon livre“, und bemalten es mit farbenfrohen Blumen, rankenden Bäumen und grossen Herzen.

Das Kernstück der Arbeit am Memory and Life Book war die Übung mit den sechs Fenstern, in denen die TeilnehmerInnen je ein wichtiges Ereignis aus ihrem Leben auswählten. Anschliessend erzählten die Frauen ihre Geschichte einer Partnerin, die aufmerksam zuhörte und verständnisvoll nachfragte. Anschliessend erzählte sie die gehörte Geschichte in eigenen Worten neu, wobei sie bewusst die Stärken betonte.

In diesem Prozess wurde aus der Leidensgeschichte einer Frau, ihren Erfahrungen von Gewalt, Verrat und Verlassenwerden, die Geschichte einer mutigen jungen Frau, die sich trotz traumatischer Erfahrungen dem Leben stellt und sich zusammen mit anderen Frauen und Männern für eine bessere Zukunft für alle engagiert. Auch die Geschichte einer anderen Teilnehmerin ist die Geschichte einer Heldin: selbst HIV-positiv hat sie ihren schwerkranken Mann bis zu dessen Tod aufmerksam gepflegt und ist heute für ihre Kinder sowohl Mutter wie Vater. Sie arbeitet unermüdlich, um ihren Kindern eine gute Ausbildung zu ermöglichen und sich selbst die notwendigen Medikamente zu kaufen. Die ersten Memory Books waren von aidskranken Eltern afrikanischer Herkunft geschrieben worden, die, den nahenden Tod vor Augen, ihren Kindern ein Vermächtnis hinterlassen wollten. Bereits mit den ersten Memory Books und verstärkt noch mit der Zugänglichkeit von Aidsmedikamenten ist Memory Work zu einem Werkzeug geworden, das aidsbetroffene Menschen darin unterstützt und stärkt, das eigene Leben zu gestalten. Der Begriff Memory Work (Erinnerungsarbeit) umschreibt einen Ansatz der psychosozialen Unterstützung und umfasst verschiedene therapeutische Methoden zum Erkunden der eigenen Geschichte. Als Behälter und Ausdruck der Erinnerungen können Memory Boxes (Erinnerungskästchen) dienen, Memory Books (Erinnerungsbücher), Hero Books (HeldInnenbücher) oder Body Maps (lebensgrosse Körperkontur-Karten). Das eigentliche Ergebnis der Erinnerungsarbeit ist nicht das Buch oder das Bild, sondern der durch das Erzählen der eigenen Geschichte und das Zuhören der anderen ausgelöste Prozess.

Wie ist es dir gelungen?“
Die Reflektionsarbeit hilft den Beteiligten, den roten Faden und die Überlebensstrategien in der eigenen Lebensgeschichte zu erkennen. „Wie ist es dir gelungen, so weit zu kommen?“, ist eine klassische Frage des lösungsorientierten Ansatzes. Steve de Shazer und Insoo Kim Berg hatten diesen Therapieansatz entwickelt, der davon ausgeht, dass jeder Mensch Stärken und Fähigkeiten hat, auf denen bei der Suche nach Lösungen aufgebaut werden kann. Im Gespräch wird nach Ausnahmen gesucht, nach jenen Momenten, in denen das Problem etwas weniger bedrückend war. Dabei werden Verhaltensweisen und Fähigkeiten sichtbar, die die Lösung in sich tragen. Der lösungsorientierte Ansatz geht von der Annahme aus, dass Veränderungen stets stattfinden und jedeR die Zukunft selbst gestalten kann. Der Beratende unterstützt durch hilfreiche Fragen die KlientInnen, die eigenen Ziele zu definieren, die eigenen Ressourcen und Fähigkeit zu erkennen und Lösungen zu finden.

Heute wird der lösungsorientierte Ansatz in verschiedenen Kontexten angewendet. Denn mehr noch als eine Methode ist er eine Grundhaltung, die jeden Menschen als Expertin und Experte des eigenen Lebens anerkennt. Diese Haltung wird begleitet von der Kunst, die richtigen Fragen zu stellen. So auch in der Erinnerungsarbeit.

„.. daraus habe ich gelernt, dass jede Person Potential hat“
Am Welt-Sozialforum 2007 in Kenia hat Irene Bush, Fachfrau und Beraterin für psychosoziale Arbeit bei terre des hommes schweiz, erstmals bewusst den lösungsorientierten Ansatz in der Erinnerungsarbeit eingesetzt. 21 junge Frauen und Männer zwischen 18 und 25 Jahren aus vier Kontinenten waren zusammengekommen, um an einem einwöchigen Workshop ihre eigene Body Map zu gestalten. Die Jugendlichen zeichneten und malten in der lebensgrossen Silhouette ihres Körpers ihre eigene Biographie.

Irene Bush leitete die Jugendlichen mit gezielten Fragen an, sich beim Malen, Reflektieren und Miteinander-Teilen auf die Fähigkeiten und Lösungen zu konzentrieren und sie symbolisch auszudrückten. Statt Wunden oder schlecht verheilte Narben einzuzeichnen markierten sie in ihrem Körper den Ort der Kraft mit einem Symbol. Neu nutzte Irene Bush zur kreativen Gestaltung die Idee des Triptychon: Durch die Dreiteilung des Gemäldes wird die zentrale Figur betont, die gegenwärtige Wahrnehmung des Selbst. Die linke Seite enthält Erfahrungen aus der Vergangenheit, welche die Identität geprägt haben, während die rechte Seite des Bildes die Zukunftspläne symbolisiert. Im Gespräch wird nach Wegen gesucht, dahin zu gelangen. Dabei werden das Potential und die Fähigkeiten jedes einzelnen gewürdigt und als Ausgangspunkt für Veränderungen genommen.

„Der Workshop war ein wichtiger Augenöffner“, schrieb ein Teilnehmer in der Evaluation. „Er zeigte mir, wie notwendig es ist, sich und seine Stärken und Schwächen zu kennen und auch seine Lebensvision auszudrücken.“ Eine andere Teilnehmerin betonte, wie sie sich eins mit ihrem Bild fühlte und im Prozess viel lernte: „Der Body Map-Workshop hat mir geholfen, ungenutzte Fähigkeiten zu entdecken - das ist Malen - und daraus habe ich gelernt, dass jede Person Potential hat, das im richtigen Umfeld und dem richtigen Einfluss freigesetzt werden kann. Ich wusste nicht, wie ich meine Zukunft durch eine Zeichnung ausdrücken könnte. Ich habe es dann getan und die Leute wissen lassen, wer ich wirklich bin.“

Die Erinnerungen wertschätzen
aidsfocus.ch hatte im Jahr 2006 in Zusammenarbeit mit terre des hommes schweiz ein Toolkit zu Memory Work herausgegeben. Diese hat bei VertreterInnen von Hilfswerken in der Schweiz und ihren Partnern im Globalen Süden, insbesondere im südlichen und östlichen Afrika, grossen Anklang gefunden. Es schien in diesen Regionen einem Bedürfnis für psychosoziale Unterstützung von HIV- und aidsbetroffenen Menschen zu entsprechen. Aus wertvollen Rückmeldungen aus verschiedenen Ländern lernten wir, dass der Memory Work Ansatz auch in anderen Kontexten anwendbar und hilfreich ist.

Die grösste Neuerung der überarbeiteten Ausgabe des Toolkits mit dem Titel „Treasure Memories“ (zu übersetzen mit „die Erinnerungen wertschätzen“ oder „Schatz der Erinnerungen“) ist der konsequente Einbezug des lösungsorientierten Ansatzes. Damit wird Erinnerungsarbeit vertieft und erweitert und in zukunftsbejahende Bahnen gelenkt. Indem die Betreffenden als ExpertInnen ihres Lebens anerkannt werden, gewinnen sie an Selbstvertrauen, Zuversicht und Mut, die eigene Zukunft in neuem Licht zu sehen und sie zu gestalten.

Das neue Toolkit enthält Geschichten und Erfahrungen mit verschiedenen Formen von Memory Work in Afrika, Asien, Zentralamerika und in der Schweiz, Handbücher für GruppenleiterInnen sowie den Film „Kraft der Erinnerung“. Es erscheint erstmals viersprachig: englisch, französisch, deutsch und portugiesisch. Die portugiesische Version entspricht dem grossen Wusch von Partnerorganisationen in Mosambik, einem von Aids stark betroffenen Land des südlichen Afrikas, denen mangels englischer Sprachkenntnisse Memory Work bisher nicht zugänglich war. Es erscheint auch auf deutsch, denn Memory Work kann in der Schweiz erfolgreich eingesetzt werden. Die lösungsorientierte Erinnerungsarbeit ist ein vielversprechender Ansatz und nützt nicht nur aidsbetroffenen Menschen, sondern all jene, die sich bewusst mit dem eigenen Leben - und Sterben - auseinander setzen wollen. Zurzeit sind Möglichkeiten von Memory Work in der Arbeit mit krebskranken Kindern und Erwachsenen in der Schweiz und in Uganda in Diskussion. (Helena Zweifel, in Soziale Medizin Nr.2, 10. Juni 2010)

Das neue Toolkit zu lösungsorientierter Erinnerungsarbeit „Treasure Memories“ wird am 18. Juli 2010 an der Weltaidskonferenz in Wien lanciert. Es kann bezogen werden bei aidsfocus.ch/ Medicus Mundi Schweiz, 061 383 18 10, info@aidsfocus.ch.

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